Kinder mit ADHS…

Dr. Susanne Ziereis

…profitieren von sportmotorischen Bewegungseinheiten

Dr. Susanne Ziereis

Meist ist es die motorische Unruhe, die bei Kindern mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung am prominentesten in Erscheinung tritt und in vielen Situationen als störend wahrgenommen wird. Häufig fällt es betroffenen Kindern zudem auch schwer, bestimmte Aktivitäten bremsen, reduzieren, steuern und regeln zu können bzw. sich über eine längere Zeit auf eine Aufgabe zu konzentrieren (Barkley, 2001). In Deutschland betrifft dies ca. 5% der Kinder und Jugendlichen im Alter von 3 bis 17 Jahren, womit die Störung die häufigste psychiatrische Erkrankung in diesem Alter darstellt. Differenziert man einzelne Altersgruppen voneinander, so kann eine Prävalenz von bis zu 2,9% für Vorschulkinder und eine Prävalenz bis zu 7,9% für Jugendliche angegeben werden. Generell gilt jedoch, dass ADHS bei Jungen dreimal häufiger diagnostiziert wird als bei Mädchen (Schlack et al., 2007).

Neben den Leitsymptomen Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit und Impulsivität werden bei einer ADHS-Diagnose oftmals auch komorbide Störungsbilder beobachtet. Im kognitiven Bereich können sich diese in einer Lese-Recht- schreibschwäche, einer Dyskalkulie bzw. in einer Sprach- und Gedächtnisstörung äußern (Wohnhas-Baggerd, 2008; Barkley, 2006). Hierfür werden vor allem mangelnde exekutive Funktionen (EF)1 verantwortlich gemacht. Aber auch motorische Auffälligkeiten – sowohl in der Feinmotorik als auch bei grobmotorischen Bewegungsaufgaben – zeigen sich bei diesen Kindern häufig (Fliers et al., 2008; Willcut et al., 2005).

Die Frage nach einem Zusammenhang zwischen den kognitiven und motorischen Defiziten bei Kindern mit ADHS konnte von mehreren Forschungsgruppen bereits positiv beantwortet werden (u.a. Ziereis & Jansen, 2016). Die Ergebnisse dieser Arbeiten lassen schlussfolgern, dass die Einschränkungen im Bereich der kognitiven Fähigkeiten, insbesondere die der exekutiven Funktionen, bei motorisch ungeschickten Kindern größer ausfallen als bei Kindern mit vergleichsweise besseren motorischen Fähigkeiten. Basierend auf diesem Zusammenhang liegt die Vermutung nahe, dass eine Verbesserung bzw. ein Training der motorischen Fähigkeiten mit einer kognitiven Leistungssteigerung einhergehen müsste. Nachdem erste Pilotstudien darauf hin deuteten, dass eine Verbesserung der kognitiven Fähigkeiten bereits durch vermehrte körperliche Aktivität erreicht werden kann (Gapin, Labban, & Etnier, 2011), untersuchte man in den letzten Jahren u.a. speziell die Effekte gezielter sportmotorischer Trainingseinheiten auf die kognitive Leistungsfähigkeit bei Kindern mit ADHS (u.a. Medina, Netto & Muszkat, 2009; Ziereis & Jansen, 2015).

So gingen Medina und Kollegen beispielsweise den Kurzzeiteffekten einer einzelnen intensiven Trainingseinheit auf die kognitive Leistungsfähigkeit bei Jungen nach und stellten dabei signifikante Verbesserungen im Bereich der Aufmerksamkeitsleistung fest (Medina et al., 2009). Diversen Forschergruppen gelang es jedoch auch, durch ein längerfristiges Interventionsprogramm über mehrere Wochen positive Effekte auf die kognitive Leistungsfähigkeit aufzuzeigen (vgl. Chang et al., 2014; Verret, Guay, Berthiaume, Gardiner und Béliveau, 2012; Ziereis & Jansen, 2015).

In einem eigenen Forschungsprojekt untersuchten wir dabei beispielsweise die Effekte zweier unterschiedlicher, zwölf-wöchiger Trainingsprogramme auf einzelne kognitive Funktionen sowie auf die Motorik bei 43 ADHS-Kindern im Alter von sieben bis zwölf Jahren. Darin nahmen die Kinder in Kleingruppen aufgeteilt und von Fachübungsleitern betreut einmal wöchentlich für 60 Minuten an einer Sporteinheit am Sportzentrum der Universität Regensburg teil. Da die Ergebnisse eines vorangegangenen Projekts einen deutlichen Zusammenhang zwischen den spezifischen kognitiven Leistungen und der Handgeschicklichkeit (HG), Ballfertigkeit (BF) bzw. der Balance (BAL) zeigten, stand in den Trainingseinheiten einer Gruppe die Schulung und Verbesserung dieser motorischen Fähigkeiten im Vordergrund. Schwerpunkte der Einheiten stellten demnach das Fangen, Werfen und Prellen mit unterschiedlichen Bällen, die Schulung der Auge-Hand-Koordination, das Gleichgewichtstraining, die Feinmotorikschulung sowie die allgemeine Koordinationsschulung dar. Der generelle Stundenaufbau enthielt neben einer Erwärmungsphase (ca. 10 Minuten), einen Hauptteil (ca. 40 Minuten) sowie einen Stundenausklang (ca. 10 Mi- nuten).

Um einen möglichst hohen Kontrast zwischen den beiden Programmen zu erreichen und so zu prüfen, ob eine spezifische Schulung der HG, BF und BAL wirklich nötig ist, um positive Effekte auf die kognitiven Fähigkeiten zu erzielen, wurden im Programm der zweiten Gruppe lediglich Sportarten geschult, in welchen die HG, die BF und die BAL nicht bzw. nur in geringem Maße gefordert waren. Vor sowie nach den zwölf Wochen erfassten wir die kognitiven und motorischen Fähigkeiten aller Kinder mit Hilfe standardisierter Testverfahren. Bei beiden Interventionsgruppen kam es im Vergleich zur Kontrollgruppe zu signifikanten Verbesserungen einzelner kognitiver Fähigkeiten sowie der motorischen Leistungen. Ein Unterschied zwischen den beiden Gruppen konnte jedoch nicht aufgezeigt werden. Zusammenfassend kann somit festgehalten werden, dass sich durch die Teilnahme an einer sportmotorischen Intervention neben den motorischen Fähigkeiten auch einzelne kognitive Fähigkeiten bei Kindern mit ADHS positiv beeinflussen lassen. Dabei scheint der Inhalt einer entsprechenden Intervention keine Rolle zu spielen.

 

Praxisrelevanz der Ergebnisse

Eine Umsetzung dieser Erkenntnisse in die Praxis ist im schulischen Kontext bzw. im familiären und sozialen Umfeld der Kinder ebenso denkbar wie im Rahmen der therapeutischen Versorgung. Obwohl bereits vereinzelte Modelle bzw. Modellprojekte zur körperlichen Aktivierung der Kinder in Schulen bestehen (z.B. Bewegte Schule und Bewegte Pause der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung, Bewegung zur kognitiven Aktivierung (BekoAkt, Voll & Buuck, 2011)), findet eine praktische Umsetzung meist nur sehr vereinzelt statt. Die Schule ist und bleibt jedoch ein Setting, in dem hinsichtlich einer Umsetzung der oben stehenden Erkenntnisse in die Praxis durchaus Potential gesehen werden kann. Neben der Tatsache, dass dabei alle Kinder mit diesem speziellen Förderbedarf erreicht werden, könnten in diesem Zuge auch Kinder ohne eine entsprechende ADHSDiagnose davon profitieren.

Ist es aus organisatorischer Sicht machbar, sollten folgende Aspekte bei der Konzeption entsprechender Bewegungseinheiten im Sportunterricht bzw. im Klassenzimmer beachtet werden:

  • Wie die Ergebnisse unseres Projekts zeigen, scheint Bewegung jeglicher Art einen positiven Einfluss auf einzelne kognitive Fähigkeiten zu haben. Das bedeutet, dass es zunächst einmal nicht zwingend notwendig ist, sich an spezielle Inhalte bzw. Übungs-/Spielformen zu halten.
  • Es kann jedoch sicherlich sinnvoll sein, wenn die Bewegungseinheiten Übungen, Trainings- sowie Spielformen zur Schulung der Feinmotorik sowie grobmotorischer Bewegungsaufgaben enthalten.
  • Auch in sportmotorischen Übungen mit kognitivem Anforderungscharakter (wie beispielsweise aus dem Bereich der Life Kinetik) kann durch die simultane Beanspruchung der motorischen und kognitiven Fähigkeiten großes Potential gesehen werden.

Dass die Arbeit mit ADHS-Kindern – speziell in Verbindung mit der Tatsache, dass man als Lehrer/Lehrperson seine Aufmerksamkeit einer ganzen Klasse schenken sollte – keine leichte ist, bleibt unbestritten. Dennoch sollte versucht werden, gerade diese Kinder im Klassenverbund sportmotorisch zu fördern und sie keinesfalls aufgrund möglichen Fehlverhaltens von entsprechenden Bewegungseinheiten auszuschließen.

 

Dr. Susanne Ziereis
Institut für Sportwissenschaft, Universität Regensburg

 

Literatur

Barkley, R. A., Edwards, G., Laneri, M., Fletcher, K., & Metevia, L. (2001). Executive functioning, temporal discounting, and sense of time in adolescence attention deficit hyperactivity disorder (ADHD) and oppositional defiant disorder (ODD). Journal of Abnormal Child Psychology, 29, 541-556.

Barkley, R. A. (2006). Attention-Deficit Hyperactivity Disorder. A Handbook for Diagnosis and Treatment. New York: The Guilford Press.

Chang, Y. K., Hung, C. L., Huang, C. J., Hatfield, B. D., & Hung, T. M. (2014). Effects of an Aquatic Exercise Program on Inhibitory Control in Children with ADHD: A Preliminary Study. Archives of Clinical Neuropsychology, 30, 217-223.

Fliers, E., Rommelse, N., Vermeulen, S., Altink, M., Buschgens, C., Faraone, S., Sergeant, J., Franke, B., & Buitelaar, J. (2008). Motor coordination problems in children and adolescents with ADHD rated by parents and teachers: effect of gender and age. Journal of Neural Transmission, 115, 211-220.

Gapin, J., Labban, J., & Etnier, J. (2011). The effects of physical activity on attention deficit hyperactivity disorder symptoms: The evidence. Preventive Medicine, 52, 70-74.

Medina, J., Netto, T., & Muszkat, M. (2009). Exercise impact on sustained attention of ADHD children, methylphenidate effects. Attention Deficit Hyperactivity Disorder, 2, 49-58.

Schlack R et al., Bundesgesundheitsblatt, 2007, 50:827-835.

Verret, C., Guay, M.-C., Berthiaume, C., Gardiner, P., & Béliveau, L. (2012). A Physical Activity Program Improves Behavior and Cognitive Functions in Children With ADHD: An Exploratory Study. Journal of Attention Dirsorders, 16(1), 71-80.

Wohnhas-Baggerd, U. (2008). ADHS und Psychomotorik. Systemische Entwicklungsbegleitung als therapeutische Intervention. Schorndorf: Hofmann.

Willcutt, E., Doyle, A., Nigg, J., Faraone, S., & Pennington, B. (2005). Validity of the Executive Function Theory of Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder: A Meta-Analytic Review. Biological Psychiatry, 57, 1336-1346.

Ziereis, S., & Jansen, P. (2015). Effects of physical activity on executive function and motor performance in children with ADHD. Research in Developmental Disabilities, 38, 181-191.

Ziereis, S., & Jansen, P. (2016). Correlation of motor abilities and executive functions in children with ADHD. Applied Neuropsychology: Child.


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Fussnote

1 Bei EF handelt es sich um selbstregulatorische, kognitive Prozesse höherer Ordnung, die für selbst-ständiges, vorausschauendes Planen und Handeln erforderlich sind (Diamond, 2013)

 

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