Bert Brecht: Der Mensch und die Leibesübungen – die Krise des Sports

Der DSLV Bayern hatte die wohlwollende Unterstützung von Frau Brecht–Schall, die leider im Sommer 2015 verstorben ist. Die Erben von Frau Brecht-Schall unterstützen die Veröffentlichungsanfrage ebenso, und der DSLV Bayern konnte die Genehmigung zum Abdruck dieses bemerkenswerten Essays von Bert Brecht beim Verlag erstehen.

„Die Krise des Sports“

aus: Bertolt Brecht, Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Band 21: Schriften 1. © Bertolt-Brecht-Erben / Suhrkamp Verlag 1992.

Einen Mann, der in der Welt herumgekommen ist, habe ich kürzlich sagen hören, die Deutschen zeichneten sich (unter anderem) dadurch vor allen Völkern aus, daß sie zu jeder Tages- und Nachtzeit essen und zu jeder Tages- und Nachtzeit lieben könnten. Wenn dies zutrifft (und ich hoffe, daß es zutrifft), dann würde uns Sport sicher ganz gut tun: es wäre dann nur all zu klar, dass für uns etwas geschehen muß.
Nun besteht bei den meisten unserer Erziehungsbeamten zweifellos eine natürliche Abneigung gegen Leibesübungen (es hat keinen Sinn, daß die Leiber geübt werden). Wird diese Abneigung, die besonders von einer Seite ausgeht, die für unsere Jugend die Erlernung der griechischen Sprache empfiehlt, die Entwicklung des Sports aufhalten?
Ich glaube nicht.
Das deutsche Bürgertum, das mit den Resten feudaler Kasten 1918 so rasch und verhältnismäßig gründlich aufräumte, das eine unpraktische und teure Offiziers- und Diplomatenkaste ohne mehr Sentimentalität als der Anstand verlangte, zum alten Eisen warf, wird die Winke seiner geliebten Wissenschaftler in bezug auf eine Stabilisierung der Hygiene kaum in den Wind schlagen. Was sollten dicke Bäuche für einen Nutzen haben? Hygiene ist vorteilhafter als Medizin. Turnlehrer sind rentabler als Ärzte. Was ist besser: sich die Fußnägel schneiden oder sich nur immer größere Stiefel anschaffen?
Wenn der Sport nur laut und lang genug Hygiene brüllt, wird er schon gesellschaftsfähig werden. Dir Frage ist nur, ob ihm das gut tun wird.
Eine Propagandaschrift für die, sagen wir, gesellschaftliche Anerkennung des Sportes könnte sehr reichhaltig sein. Man könnte eine Menge verlockender Argumente dafür anführen, daß der Sport in den Schulen gelehrt, von der Akademie kontrolliert und von der Nation zum Kulturgut erhoben werden müsse. Soll man es?
Man müßte zumindestens zuerst einige sehr peinliche Eindrücke verwinden, die man in letzter Zeit empfangen hat.
Die Photos eines ältlichen deutschen Dramatikers als Diskuswerfer haben wohl uns alle mit banger Sorge, nicht nur für die Zukunft dieses Mannes, für die gesorgt ist, erfüllt, sondern für den Sport.
Andererseits waren die zynischen Photos einer in der Lebewelt gelesenen Monatsschrift1, die einen Querschnitt durch das europäische Kulturleben liefert, wohl geeignet, unser Ärgernis zu erregen: Neben James JOYCE prangte Herr DIENER2. Ist es bösartig anzunehmen, daß diese Zeitschrift damit eher Herrn DIENER als Herrn JOYCE nützen wollte? Ich weiß nicht, ob es Herrn JOYCE genützt hat. Aber kann es Herrn DIENER nützen?
Ich habe schon gelesen, daß man Leibesübungen für Knaben vorschlug, damit sie besser Griechisch lernen konnten. Nach Leibesübungen hätten sie einen klaren Kopf. In diesen klaren Kopf könnte man dann Griechisch hineintun. Ist das verlockend?
Man kann viele Leute hereinbekommen, wenn man ihnen sagt, daß Sport gesund sei. Aber soll man es ihnen sagen? Wenn sie Sport genau so weit treiben, als er gesund ist, ist es dann Sport was sie treiben? Der große Sport fängt da an, wo er längst aufgehört hat, gesund zu sein.
Das Scheußlichste, was man sich ausdenken kann, ist Sport als Äquivalent. Diese Leute argumentieren so: heute braucht man seinen Kopf mehr als im Jahre 1880. Also muß man Sport treiben, damit es sich ausgleicht. Ganz abgesehen davon, daß man mir erst beweisen müßte, wobei heute mehr Kopf gebraucht worden ist als 1880 – wieso sollte dann der Umstand, daß die Leute heute mit ihren Angelegenheiten weniger leicht fertig werden als 1880, zu der Annahme berechtigen, sie könnten körperlich leistungsfähiger sein?
Ich weiß sehr gut, warum die Damen der Gesellschaft heute Sport treiben: weil ihre Männer in ihrem erotischen Interesse nachgelassen haben. Ohne diesen Damen besonders wohl zu wollen – je mehr Sport sie treiben, desto mehr werden diese Herren nachlassen.
Ich bin nicht sicher, ob es uns gut tut, Herrn Otto WOLFF wird es schon gut tun, wenn er ab und zu ein paar Kniebeugen macht, aber diese Kniebeugen werden den Sport nicht weiterbringen.
Kurz: ich bin gegen alle Bemühungen, den Sport zu einem Kulturgut zu machen, schon darum, weil ich weiß, was diese Gesellschaft mit Kulturgütern alles treibt, und der Sport dazu wirklich zu schade ist. Ich bin für den Sport, weil und solange er riskant (ungesund), unkultiviert (nicht gesellschaftsfähig) und Selbstzweck ist.

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